Geschichte vermitteln
„Do not be indifferent.“ „Seid nicht gleichgültig”, zitierte Marian Turski in seiner Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz seinen Freund Roman Kent, der wie er Auschwitz überlebte. Dabei verwies er auf die kleinen Anzeichen der Ausgrenzung im Alltag, die unterschätzt wurden und werden, oft weil sie einen nicht persönlich zu betreffen scheinen oder noch nicht existentielle Bedürfnisse berühren. „Seid nicht gleichgültig“ zielt auch auf einen zentralen Auftrag schulischer Bildung ab, junge Menschen zur wachen, reflektierten Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart zu befähigen und sie zu deren (Mit-)Gestaltung zu ermutigen. Gerade in der Bezugnahme auf das Hier und Jetzt, in der Aufforderung zu konstruktiver Gesellschaftskritik steckt das Potential der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Für heutige Schüler*innen liegt die NS-Diktatur nicht nur zeitlich mehr als drei Generationen zurück, ihnen ist es auch kaum noch möglich, über Zeitzeug*innen im zuhörenden Nachempfinden eine unmittelbare Begegnung mit diesen zwölf Jahren deutscher Geschichte zu erfahren. Gerade für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur ist es gut, neben den fachlichen Kompetenzen der exemplarischen Vertiefung Zeit und Raum einzuräumen. Großes Potential – und das ist der für dieses Projekt gewählte Zugang – bergen aus dieser Zeit erhaltene Dokumente. Originalakten aus einem Archiv in Händen halten und studieren zu dürfen, macht Geschichte begreifbarer, garantiert Echtheit und Authentizität und ermöglicht jungen Menschen, selbst forschend-entdeckend tätig zu werden.
Der Aktenbestand des Sondergerichts Mannheim, auf den wir in diesem Projekt zurückgreifen, mag auf den ersten Blick nicht der naheliegendste sein, eröffnet aber mannigfaltige Zugänge zur Zeit der NS-Diktatur: So lassen sich an ihm unter anderem
zeigen. Es sind unter anderem Fälle sogenannter Alltagskriminalität, deren Art der juristischen Bearbeitung im Nationalsozialismus viel über die Folgen jener Gleichgültigkeit verraten, vor denen Marian Turski und Roman Kent so eindringlich warnten, wenn sie uns heute auffordern: „Seid nicht gleichgültig!“
Welche Formen der Vermittlung können in der Schule den komplexen Thematiken rund um die NS-Sondergerichte gerecht werden? Wie kann die Aneignung eines Methodenrepertoires gelingen, mit dem Schüler*innen in die Lage versetzt werden, gerichtliche Fallakten samt handschriftlicher Briefe zu lesen, einzuordnen und zu bewerten?
Wofür im regulären (Geschichts-)Unterricht kaum Raum noch Zeit ist, bietet sich in der Kursstufe am Gymnasium in Baden-Württemberg ein spezieller Wahlkurs an. Der mit dem Schuljahr 1998/99 eingeführte fächerverbindende und projektorientierte Seminarkurs soll Schulabsolvent*innen den Übergang zum Studien- bzw. Berufsleben erleichtern, indem er hochschulnahe, erwachsenengerechte und die Selbstständigkeit fördernde Arbeitsformen in den Mittelpunkt stellt, die Präsentationsfähigkeit und das Arbeiten im Team schult. Einem inhaltlichen Jahresthema verpflichtet verfassen Schüler*innen eine nach wissenschaftlichen Maßstäben angefertigte Dokumentation und stellen ihre erworbenen Kenntnisse und methodischen Kompetenzen in einem Kolloquium unter Beweis. Diese „besondere Lernleistung“ können sie auf Wunsch für ihr Abitur anrechnen lassen.
Das Projekt bedient sich des Seminarkurs-Formats, um Schüler*innen einerseits eine breit angelegte Orientierung hinsichtlich des Stellenwerts der Sondergerichte innerhalb der nationalsozialistischen Diktatur zu geben und um ihnen andererseits vertiefte Einblicke in konkrete Unrechtsverfahren zu ermöglichen, aus denen sich Erkenntnisse für unsere heutige Zeit ableiten lassen. Hierfür öffnet sich Schule nach außen und setzt auf die Unterstützung durch Expert*innen, wenn Mitarbeiter*innen des Archivs in die Akten- und Bibliothekar*innen in die Zeitungsrecherche einführen, wenn Historiker*innen zeigen, wie sie Akten des Sondergerichts lesen und erschließen, wenn Universitätsprofessor*innen erläutern, wie sie forschen und aus den gewonnenen Erkenntnissen eine Veröffentlichung entsteht. In Kleingruppen bearbeiten die Schüler*innen ausgesuchte Fälle des Sondergerichts Mannheim, stellen ihre Fragen an die Quellen und legen ihre Ergebnisse in Form von schriftlichen Arbeiten dar. Ihre Erkenntnisse präsentieren sie sowohl in einem Prüfungsgespräch als auch bei mehreren Veranstaltungen im (außer-)schulischen Rahmen.
Eine besondere logistische und organisatorische Herausforderung stellt die Organisationsform des Kurses dar, da dieser unter dem Dach der Schülerakademie Karlsruhe e.V. Schüler*innen aus drei Karlsruher Gymnasien zusammenbringt, die von drei Lehrkräften gemeinsam angeleitet werden, ein Konzept, das in den Jahren 2014 – 2019 im Projekt „NS in KA“ erprobt wurde und maßgeblich zur Horizonterweiterung aller Beteiligten beiträgt.
Das damalige Projekt widmete sich thematisch der Lokalgeschichte des Nationalsozialismus in Karlsruhe. Hierfür vernetzten sich die Schulen mit mehreren Institutionen und außerschulischen Lernorten. Kursteilnehmer*innen sichteten Aktenbestände im Stadt- und Generallandesarchiv, unterstützt durch StudentInnen und DozentInnen des Forschungsprojektes „Geschichte der Landesministerien in Baden-Württemberg zur Zeit des Nationalsozialismus“ an der Universität Heidelberg.
Sichtbar gemacht wurden die wissenschaftlichen Ergebnisse in künstlerischer Form in Kooperation mit dem Zentrum für Kunst und Medien und im digitalen Stadtrundgang des Stadtjugendausschusses Karlsruhe e.V.. Die vom Stadtjugendausschuss in den 1980er Jahren entwickelte Broschüre „Nie wieder – Stadtrundgang auf den Spuren des Dritten Reichs in Karlsruhe“ diente dabei als Grundlage und wertvoller Impulsgeber.
Auf der Suche nach neuen Formen des Gedenkens forderten nach der wissenschaftlichen Erarbeitungsphase in einem zweiten Schritt Kunstvermittler*innen der ZKM-Museumskommunikation die Teilnehmer*innen des Kurses auf, ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Assoziationen künstlerisch umzusetzen und dabei nach den ihnen gemäßen Ausdrucksformen zu suchen. Die Arbeit mit unterschiedlichen Medien und Technologien waren dabei integraler Bestandteil der Reflektion über Formen der Wissens- und Erkenntnisproduktion in Kunst und Wissenschaft und über Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung.
Am Ende einer fünfjährigen Zusammenarbeit waren außergewöhnliche Präsentationen, Vorträge, Ausstellungen, Installationen und Werkschauen als Sinnbild der erfolgreichen Zusammenarbeit alle vernetzten Beteiligten entstanden, worüber die Veröffentlichung „Wie viel Geschichte steckt in dir? – Neue Wege zur Erinnerungskultur des Nationalsozialismus – ein transdisziplinäres Projekt zwischen Schule, Archiv und Kunstpraxis“ bild- und wortreich Auskunft gibt.
Der im Schuljahr 2024/25 laufende schulübergreifende Seminarkurs, der im Rahmen des EVZ-geförderten Projekts „Denunziation – Repression – Verfolgung: Politischer Dissens und Alltagskriminalität vor den nationalsozialistischen Sondergerichten 1933-1945“ stattfindet, knüpft einerseits an das Netzwerk und die Erfahrungen dieser mehrjährigen Zusammenarbeit an, verfolgt aber insofern eine neue Zielsetzung, als dass durch die Digitalisierung ausgewählter Akten sowie die Bereitstellung des methodischen Handwerkzeugs und aufgearbeiteter Sondergerichtsakten Voraussetzungen geschaffen werden sollen, die es allen Interessierten ermöglichen, sich in vergleichbarer Weise mit diesen Zeugnissen des NS-Unrechtsstaates auseinanderzusetzen.
Autor*innen: Marion Bodemann, Hendrik Hiss, Dr. Tobias Markowitsch