Der Polizeihauptwachtmeister geriet nun unter Handlungsdruck, da die Abfahrt der Züge näher rückte, mit denen die beiden weiterreisen wollten: Von der Zeugin, Johanna Eifert, wohnhaft in Berlin, nahm er die Personalien auf und die Adresse, unter der sie in Lorch erreichbar sein würde, und ließ sie den Zug dorthin besteigen. Den verdächtigen Mann, Franz Geueke, nahm er vorläufig fest, um ihn im Bezirksgefängnis Heidelberg ausführlich verhören zu können. Franz Geueke gab dabei an, Johanna Eifert, um die Wartezeit zu überbrücken, ins Café Arnold eingeladen zu haben. Während der Unterhaltung in dem Cafe sagte sie, daß sie als Angestellte im Reichsstand des deutschen Handwerks in Berlin tätig sei. Daraufhin sagte ich ihr, daß der Reichshandwerksmeister mit einer Jüdin verheiratet gewesen sei und sich vor kurzer Zeit habe scheiden lassen. Ich habe nicht gesagt, daß der Führer und Reichskanzler ein Irrsinniger sei. Von Hitler war überhaupt nicht die Rede. Auch im weiteren Gespräch habe ich von Dieb oder Zuchthäusler bestimmt nicht gesprochen. Was der Polizeihauptwachtmeister auf der Straße selbst gehört zu haben meinte, gestand Franz Geueke in Teilen ein. Ich gebe zu, daß ich auf dem Wege durch die Bahnhofstraße gesagt habe: Es kam ein Mann aus Österreich und machte in Deutschland eine Bewegung. Mehr habe ich nicht gesagt.
betrat Polizeihauptwachtmeister Georg Wacker bei einer Polizeistundenkontrolle das nahe dem Bahnhof gelegene Café Arnold. Die dort noch verbliebene Handvoll Gäste nahm dies zum Anlass, das Café zu verlassen. Als letzte gingen eine Mittdreißigerin und ein 47-jähriger Mann, die gemeinsam dort eingekehrt waren, nachdem zwei Stunden zuvor die Bahnhofswirtschaft geschlossen hatte; beide waren auf der Durchreise in Heidelberg gestrandet und warteten auf Anschlusszüge in den frühen Morgenstunden: Sie wollte weiter ins württembergische Lorch und er nach Baden-Baden. Wacker schlug wie die beiden den Weg zum Bahnhof ein, hörte das von ihnen geführte Gespräch mit und schnappte von dem Mann unverständliche Bemerkungen über die Partei auf. Auf seine Vorhaltung: Überlegen Sie was Sie sprechen, denn sonst kommen Sie in Schwierigkeiten, fuhr der Mann fort mit der Bemerkung: Da kommt einer von Österreich und macht eine Bewegung auf um Geld zu verdienen. Diese Aussage verbat sich der Polizeihauptwachtmeister mit Nachdruck, worauf der Mann ruhig war. Wacker hatte nun den Verdacht geschöpft, dass der Mann politisch tätig ist und damit Partei und Staat schädigt. Es gelang ihm, die Frau allein auf dem Bahnhofsvorplatz zu sprechen, wobei sie ihm in Kürze mitteilte, dass ihre Gelegenheitsbekanntschaft auch im Café Arnold schon politisch anstößige Reden geführt habe.
Es ist für ihn, da er keine eigene Wohnung hat, sondern nur ein Zimmer bei fremden Leuten bewohnt ein Leichtes nach dem Ausland (auch ohne Pass) zu verschwinden und sich der Strafverfolgung zu entziehen.
Tatsächlich wurde ein Haftbefehl erlassen und Franz Geueke steckbrieflich gesucht. Ein Fahndungserfolg gelang jedoch erst nach mehr als anderthalb Jahren. Der Gesuchte war nach dem Heidelberger Vorfall zunächst nicht nach Wiesbaden zurückgekehrt, sondern über Baden- Baden und Saarbrücken nach Metz gereist. Nachdem sich seine Pläne zerschlagen hatten, dort eine Buchhandlung für deutsche wissenschaftliche Literatur aufzubauen, war er ins Deutsche Reich zurückgekehrt: zunächst nach Saarbrücken, dann nach Köln, wo er bis Juli 1936 lebte. Schließlich kehrte er nach Wiesbaden zurück, wo er ein Dreivierteljahr später verhaftet wurde. Die dortige Geheime Staatspolizei überstellte ihn im März 1937 nach Mannheim, wo er verhört wurde, Auskünfte zu seiner politischen Biographie gab und sich nochmals im Detail zu den Vorgängen im Heidelberg Café Arnold am 18. Juni 1935 äußerte.
Franz Geueke gestand nun ein, kritische Bemerkungen zu Biographie und Persönlichkeit des damaligen Reichshandwerksmeisters gemacht zu haben, und erinnerte sich auch an diese oder jene abfällige Bemerkung gegen die eine oder andere Person die mit der heutigen Staatsführung zusammenhängen. Wenn er sich richtig entsinne, sei man auch auf die Hochzeit von Göring zu sprechen gekommen. Als unglaubwürdig wollte er die Zeugin nicht hinstellen, doch muss ich behaupten, dass sie die Ausdrücke »Irrinniger, Zuchthäusler und Dieb« in einem anderen Zusammenhang auffasste. Ich war zur Zeit der Tat angetrunken, bereits den ganzen Tag unterwegs und übernächtigt. In normalem Zustande hätte ich mich mit einer fremden Person über politische Dinge überhaupt nicht unterhalten.
Wacker gab sich damit zunächst zufrieden, setzte Franz Geueke auf freien Fuß und ließ ihn nach Baden-Baden weiterreisen. Allerdings fragte er bei der Geheimen Staatspolizei an dessen Wohnort Wiesbaden nach, ob dort Erkenntnisse über ihn vorlägen. Die Antwort der Kollegen aus Wiesbaden zeigte dann, dass der Heidelberger Hauptwachtmeister einen Mann hatte laufen lassen, der für einen veritablen Staatsfeind gehalten wurde: Bei dem Genannten handelt es sich um den ehemaligen Chefredakteur der Rheinischen Volkszeitung (Zentrumsblatt) und bekannten Separatisten Dr. Franz Geuecke, geb. am 15.12.87 zu Bracht, hier, Geisbergstraße 36 seit dem 1.6.34 polizeilich gemeldet. Geuecke ist hier als Staatsfeind übelster Sorte aktenmässig bekannt. Er gehörte nach seinen eigenen Angaben vom Jahre 1910 bis 1930 der Zentrumspartei an. Als Chefredakteur der bekannten »Rheinischen Volkszeitung« trat er im journalistischen Sinne für einen Bundesstaat am Rhein ein. (Separatist.) Er war mit die rechte Hand des bekannten Separatistenführers Dr. Dorten.
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme war Franz Geueke, so war aus Wiesbaden zu vernehmen, mehrfach politisch aufgefallen: 1933 hatte er in einer Gastwirtschaft Adolf Hitler als einen Landstreicher von Österreich bezeichnet und geäußert, dass ihm die Hakenkreuzfahne nichts anderes als ein Fetzen sei. Eine viermonatige Haftstrafe hatte ihn offenkundig nicht vom politischen Defätismus abgebracht, auch wenn ein Sondergerichtsverfahren in Frankfurt im Januar 1935 mangels Beweisen habe eingestellt werden müssen. In jedem Fall empfahl die Wiesbadener Geheime Staatspolizei, Geuecke in Untersuchungshaft zu nehmen, denn es besteht bei ihm Fluchtgefahr. Er wird, sobald er merkt, dass gegen ihn ein Verfahren schwebt wieder einige Zeit von hier verschwinden. Er scheint von früher Verbindungen nach dem Ausland zu haben.
Franz Geueke hätte allen Grund gehabt, durch Zurückhaltung in politischen Dingen seine Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen. Das Gefühl für eine solche Zurückhaltung geht ihm aber offenbar ab. Die Vorstrafe im Jahr 1933 hatte keine Wirkung auf ihn. Auch die Einstellung des Strafverfahrens zu Beginn des Jahres 1935 diente ihm nicht zur Warnung. Man darf ihn daher seinem ganzen bisherigen Verhalten nach unbedenklich als einen unbelehrbaren und unversöhnlichen Gegner des heutigen Staates betrachten. … Gerade Persönlichkeiten, die, wie der Angeklagte, nach mehr als 2 Jahren seit der Machtübernahme die Festigung der Bewegung und ihre überwältigenden Erfolge nicht sehen konnten und nicht sehen wollten, will das Heimtückegesetz treffen. Der Angeklagte verdient daher dieses Mal eine Strafe, die unter dem Gesichtspunkt der Vergeltung, vor allem aber zur Abschreckung vor weiteren derartigen Taten hoch bemessen werden muss. Zu seinen Gunsten wurde berücksichtigt, dass er unter dem Eindruck der durchwachten Nacht und, wenn auch nur in geringem Maße, unter dem Einfluss des Alkohols gestanden haben mag. Aufgrund dieser Erwägungen hielt man eine Gefängnisstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten für schuldangemessen.
Die anderthalbjährige Haftstrafe führte nicht dazu, dass sich Franz Geueke fortan vollständige Zurückhaltung in politischen Dingen auferlegte. Er wurde am 12. Mai 1942 von der Geheimen Staatspolizei in Frankfurt am Main verhaftet und am 7. August 1942 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Gut einen Monat später, am 15. September, wurde er in das Konzentrationslager Groß-Rosen in Niederschlesien verlegt. Dort starb Franz Geueke am 6. Oktober 1942.
GLAK 507 1331-1333
Literatur: Engehausen, Frank: Tatort Heidelberg. Alltagsgeschichten von Repression und Verfolgung 1933-1945, Frankfurt am Main 2022, S. 57-62.
Nun wurde in Berlin auch die Belastungszeugin Eifert nochmals vernommen, und sie konnte knapp zwei Jahre nach dem Vorfall noch erstaunlich präzise Angaben zum Gespräch mit Franz Geueke machen. Sie entsann sich, dass Geueke auf den Führer, einen Namen nannte er nicht, aber aus der Unterhaltung war eindeutig zu entnehmen, dass er nur den Führer gemeint hatte, schimpfte. Es fiel auch das Wort »Irrsinniger«, womit nur der Führer gemeint sein konnte. Bei der Unterhaltung kamen wir auch auf meinen früheren Vorgesetzten – Herr Schmidt von dem Reichsstand des Deutschen Handwerks – zu sprechen. Auf diesen Herrn Schmidt schimpfte er auch. Ich mußte aus seinen Reden annehmen, dass er den Schmidt kannte, dass er sagte auch, dass Schmidt aus Wiesbaden gebürtig wäre. Er sagte, dass Schmidt ein kleiner Klempnermeister in Wiesbaden gewesen sei und in Berlin hat er die große Schnauze. Es fielen auch die Worte »Lump«, »Strolch« u. a.
Nach Eingang der schriftlichen Aussage Eiferts erhob der Oberstaatsanwalt in Mannheim vor dem Sondergericht Anklage gegen Geueke. Gegenstand der Klage waren die von Eifert und Polizeihauptwachtmeister Wacker (Es kommt einer von Österreich und macht eine Bewegung auf, um Geld zu verdienen) bezeugten Aussagen über Adolf Hitler – die despektierlichen Äußerungen über den vormaligen Reichshandwerksmeister wurden nicht erwähnt, sei es wegen zu geringer politischer Bedeutung seines Amtes, sei es, weil er unterdessen höheren Ortes in Ungnade gefallen war.
Das Sondergericht Mannheim, das den Fall am 21. Mai 1937 unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Edmund Mickel verhandelte, interessierte sich aber ohnehin kaum für die Details der Gespräche, die in den frühen Morgenstunden des 18. Mai 1935 geführt worden waren, sondern nutzte die Gelegenheit zu einer Generalabrechnung mit der politischen Biographie des Angeklagten, dessen mittlerweile fast 15 Jahre zurückliegendes Engagement für die Bildung eines unabhängigen rheinischen Staates in Erinnerung gerufen wurde.